Lesezeit: 7 Minuten
Passend zum gegebenen Anlass der Isolation denke ich, können wir mal über die Gesellschaft, und was in ihr schiefläuft, nachdenken. Alles dazu sprengt natürlich den Rahmen dieses Artikels, deshalb habe ich mir einen bestimmten Punkt ausgesucht: Es geht um deine Unsicherheit, die durch Widersprüche in gesellschaftlichen Rollenidealen und Verhaltensmustern entsteht.
Ich möchte dir beispielhaft 2 solcher Widersprüche in deinem Verhalten näherbringen, die mit Sicherheit einen entscheidenden Teil zu deiner Unsicherheit oder Verwirrung beitragen. Dafür lasse ich dich einen Blick in die Gesellschaft werfen, wie sie von Soziologen (Gesellschaftswissenschaftlern) aus betrachtet wird. Anschließend folgen Tipps, wie du besser mit diesen Widersprüchen und deiner Unsicherheit umgehen kannst.
Der Anfang liegt in deinem Verhalten
Beginnen wir von Anfang an. Dein Verhalten ist (fast) vollkommen geprägt von der Gesellschaft, in der du dich befindest. Du lernst so gut wie alles von deinem Umfeld – von deinen Eltern, Großeltern, Geschwistern, Freunden, Lehrern, aber auch von Büchern, Filmen, Musik etc. Sie geben dir vor, wie du dich verhältst. Wie du sprichst. Und auch ganz besonders wichtig: Wie du denkst. Auch die Personen, von denen du lernst, lernen von jemand oder etwas anderem.
Dieses Lernen hört niemals auf – auch wenn es bei manchen Menschen vielleicht etwas einrostet – und ist kulturell geprägt. Unsere Kultur entsteht aus den Gütern, die die meisten Menschen denken, tun, sehen, fühlen etc.
Widersprüchliche Verhaltensmuster
So weit, so gut. Allerdings weist unsere Kultur in einigen Bereichen ziemlich viele Widersprüche auf. Das bedeutet, sie gibt widersprüchliche Verhaltensmuster vor. Warum tut sie das? Weil unsere heutige Kultur ein Überbleibsel aus alten Resten von Traditionen und neumodischen Denkmustern ist. Nicht so richtig alt, aber auch nicht so richtig neu. Irgendwo dazwischen sind wir und versuchen, unseren persönlichen Weg zu bestreiten.
Diese kulturellen Widersprüche rufen Unsicherheit hervor, weil du nicht weißt, an welchem Verhaltensmuster du dich orientieren sollst: Du bist selbstsicher, wenn du weißt, wie du dich verhalten sollst – meistens in einem Bereich, in dem du dich gut auskennst. Verunsichert bist du hingegen, wenn du eben nicht weißt, wie du dich verhalten sollst. Ich zeige dir beispielhaft 2 solcher widersprüchlichen Vorgaben auf:
Heischen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung
Ein Widerspruch besteht vor allem in den allgemeinen sozialen Beziehungen. In keiner anderen Zeit waren wir so abhängig von anderen Menschen wie heute. Bestes Beispiel ist Social Media: Wir geiern nach der Anerkennung, nach dem nächsten Like auf populären Plattformen. Aber nicht nur da: Auch im Berufsleben, in Paarbeziehungen oder wenn wir regelmäßig modegerecht shoppen gehen, heischen wir nach jeder Menge Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Im Berufsleben wollen wir Anerkennung vom Chef und den Arbeitskollegen. In der Beziehung wollen wir, dass unser Partner himmelhochjauchzend über uns schwärmt (und uns das auch deutlich zeigt – wehe wenn nicht!). Beim modegerechten Shopping möchten wir unsere jeweils männlichen oder weiblichen Vorzüge betonen, und ach ja, natürlich dem neuesten Trend folgen, um weiß Gott wen zu beeindrucken.
Unsicherheit durch einen ungeklärten Selbstwert
Wir konzentrieren uns darauf, von allen immer nur im besten Licht gesehen zu werden. Und wozu? Wir erschaffen unseren Selbstwert aus den Beziehungen zu anderen. Oder genauer gesagt: Aus der Anerkennung von anderen. Wir messen unseren Wert an dem, was andere von uns denken – oder scheinbar denken. Und deshalb leben wir schon hier in ständiger Unsicherheit.
Anstatt dich auf dein Inneres zu fokussieren, machst du dich komplett abhängig von der Meinung anderer Menschen, die eigentlich selbst mit ihrer Inszenierung beschäftigt sind. Und weil du das tust, lebst du die ganze Zeit in Unsicherheit: „Was denkt der Andere jetzt von mir?”, „Habe ich was Blödes gesagt?”, „Sehe ich gut aus heute?”
Das Beispiel Aussehen
Wenn du z.B. in den Spiegel schaust und diese Frage tragischerweise mit Nein beantwortest, bist du erst recht voller Unsicherheit. Du weißt nicht, wie du dich verhalten sollst, wenn du in deinen Augen nicht gut aussiehst. Du kannst dann nicht selbstbewusst auftreten, wenn du denkst, dass die anderen dich hässlich finden. Was soll der andere denn jetzt von dir denken? Und dein Selbstwert – keine Frage, der sinkt natürlich auch, sodass du noch mehr Anerkennung von anderen willst. Abgesehen von deiner schlechten Laune, die du dann bekommst.
An sich ist das System schon fragwürdig – aber das Sahnehäubchen kommt erst noch: der Widerspruch durch Unabhängigkeit.
Unabhängigkeit hoch gepriesen
Unsere Gesellschaft verlangt nämlich nicht nur nach der Anerkennung von anderen, sondern auch nach der Unabhängigkeit von anderen. Sei individuell! Mach dich nicht abhängig! Zieh dein eigenes Ding durch! In keiner Zeit war die Unabhängigkeit von anderen Menschen so hoch gepriesen wie heute.
Zugleich aber basiert unser Selbstwert extrem stark auf der Anerkennung durch andere. Wie aber sollen wir uns selbst etwas wert sein, wenn wir wegen der Anerkennung und der Unabhängigkeit von anderen zwischen den Stühlen sitzen?
Die Widersprüche führen zu einem Dilemma
Das ist das Dilemma unserer Gesellschaft, und daraus entsteht so viel Unsicherheit. Abneigung, Kälte, plötzliche innige Gefühlsausbrüche, heißer Sex und dann doch nie wieder melden – all das sind Zeichen für die Widersprüche zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Selbst, wenn wir uns mit bestimmten Menschen wohlfühlen, sind wir unsicher: „War ich jetzt zu klettig?”, „Darf ich schon zurückrufen?”, „Warum hat er mein Foto nicht geliked?”
Aber: „Das darf ich mir nicht anmerken lassen!”
Widersprüche in den Geschlechterrollen
Besonders anschaulich präsentiert sich das im Verhältnis von Mann und Frau. Ghosting, ONS, oder unsicher bei der Frage, wer im Restaurant bezahlt: All das gibt diesen Spalt zwischen den gegenteiligen Geschlechterrollen unserer Gesellschaft wieder. Es gibt keine klaren Verhaltensmuster mehr, die uns sagen, wie wir uns einem Mann oder einer Frau gegenüber zu verhalten haben. Das Problem ist: Es gibt bestimmte Verhaltens- und Rollenmuster, aber die stehen widersprüchlich zueinander!
Ohne strikte Vorgaben wissen wir oftmals nicht, wie wir uns verhalten sollen. „Wenn ich jetzt bezahle, ist er dann sauer, weil er mich nicht einladen durfte? Oder wirke ich dann unselbstständig, wenn ich ihn bezahlen lasse?”
Widersprüche in den Anforderungen an Frauen
Besonders an die Frauen werden extrem widersprüchliche Anforderungen gestellt. Damit eine Frau heute als stark und auf Augenhöhe gilt, soll sie möglichst männlich wirken. Oder mit was wird Härte, Zielstrebigkeit und Verstand sonst verknüpft? Der Dresscode passt sich ebenfalls immer mehr dem männlichen Ideal an: Gerade im Business sind z.B. Blazer angesagt (angelehnt ans Jackett, ein ursprünglich männliches Kleidungsstück).
Die Frau soll ganz Frau und die Frau soll Mann sein
Aber auf der anderen Seite werden bestimmte Anforderungen für besonders viel „Weiblichkeit“ an die Frauen gestellt: Push-Up-BHs, die den Busen bis zum Himmel hochdrücken, roter Lippenstift, hohe Schuhe, möglichst gar keine Behaarung etc. sind alles Möglichkeiten, die Weiblichkeit (oder Kindlichkeit, wie z.B. rasierte Intimzonen, die eher an kleine Mädchen als an Frauen erinnern) überdimensional zu betonen.
Die Widersprüche sind deutlich zu erkennen: Frauen sollen möglichst männlich werden, um „emanzipiert” zu sein – und zugleich gibt die Industrie keine Möglichkeit dazu, weil sie unterschwellig die Weiblichkeit (oder Kindlichkeit) betont. Und die Gesellschaft feiert das.
Eine Frau darf kein Mann sein
Besonders eindrücklich findest du das in Ratgebern. Was Männern seit Beginn der Industrialisierung beigebracht wurde – Gefühle zu beherrschen und die Vernunft walten zu lassen – wird nun auch stark in Ratgebern publiziert, die hauptsächlich von Frauen gelesen werden. Ratgeber zu Selbstverwirklichung, zu Beziehung, über Fitness: „Sei nicht so zickig, denke mit Kalkül, sei erfolgreiche Karrierefrau!” Überall hier findet eine Angleichung statt: Die Frau soll zum zweiten Manne werden, und soll es ja doch nicht!
Denn was wäre eine Frau ohne Weiblichkeit?! Dann ist sie ja wie ein Mann! Das darf sie nicht. Das geht ja nicht!
Gegensätzlichkeit der Geschlechter wirkt attraktiv
Tatsache ist eben, dass nach wie vor die Gegensätzlichkeit zwischen den Geschlechtern sehr attraktiv wirkt (und ja, größtenteils auch in Form von Vorlieben in uns verankert ist, wobei Vorlieben durchaus geändert werden können). Große Brüste und „praller Arsch“ bei Frauen sind immer noch genauso erotische Merkmale wie breite Schultern und mittlerweile wieder Bart (extra maskulin!) bei Männern. Jedoch sind das Standards, die ganz schnell wieder geändert werden können. Während z.B. in den 50er besonders kurvige Frauen als Sexsymbole galten, waren in den 60ern schon wieder schmale große Frauen mit kleinen Brüsten hip.
Ein ebenfalls sehr wunderbares Beispiel sind erotische Geschichten oder – was denn sonst? – Pornos. Und wenn die Alte da nicht richtig durchgehämmert wird, dann ist doch was verkehrt!!
Die Widersprüche in der Erotik
Unsere Gesellschaft ist vollgeboomt mit der erotischen Unterwerfung der Frau und der dominanten Position des Mannes. Pornos sind da nur eine Geschichte. Wir finden es auf Werbeplakaten, in Filmen und Büchern, in der Musik, bei den stark geschminkten Augen der Friseurin nebenan, sodass sie aussieht wie ein kleines Kind. Augen schminken und Lippen betonen sind nichts anderes, als die kindlichen Merkmale zu betonen – also die Süßheit der Kinder, um den Beschützerinstinkt zu wecken.
Das ist allerdings ein Problem, denn, so schrieb die bekannte Soziologin Eva Illouz: „Gleichheit verlangt nach einer Neudefinition von Erotik und romantischen Sehnsüchten, die noch aussteht.“ Solange Erotik und Sexualität auch nur ein bisschen mit der Unterwerfung der Frau verbunden sind, kann es keine Gleichwertigkeit zwischen Mann und Frau geben. Und recht hat sie.
Auch Männer leiden unter sozialem Druck und Unsicherheit
Aber auch Männer leiden unter sozialem Druck. Mal abgesehen davon, dass nicht jeder Mann ein hartgesottener Holzfäller oder „heißer”, austrainierter Schauspieler ist, wie es die Medien am liebsten hätten. Und sie auch Gefühle haben, kaum zu glauben! Auch sie sind gefangen zwischen alten Männlichkeitsidealen („bezahle beim Essen“, „sei der Ernährer“, „zeige keine oder möglichst wenig Gefühle“) und dem „neumodischen Kram“, von wegen „Ich bin eine selbstständige Frau, ich bezahle selbst!“ und „Warum zeigt er denn nie seine Gefühle?“.
Eine klare Rollenverteilung schafft Sicherheit
Interessant ist dabei, dass dann solche Geschichten wie Fifty Shades of Grey auf einmal Millionen begeisterter Fans aufweisen: Hier gibt es eine klare traditionelle Rollenverteilung – also ganz viel Sicherheit – indem der Mann ganz „Mann“ ist und die Frau das unterwürfige, jungfräuliche, zart besaitete Objekt der Begierde.
Und der Grund ist: Eine klare Rollenverteilung schafft Sicherheit. Du weißt genau, wie du dich verhalten sollst. „Verwischte“ Geschlechterrollen führen hingegen dazu, dass du dich unsicher fühlst, weil du eben nicht weißt, wie du dich verhalten sollst.
Unsicherheit bekämpfen in 5 Schritten
Du siehst: Unsere Gesellschaft steckt voller Widersprüche. Abhängigkeit vs. Unabhängigkeit und unklare Geschlechterrollen. Wie sollst du dich denn heute als Mann oder Frau verhalten? Kein Wunder, dass viele so unsicher sind.
Naja, und was ist jetzt die Lösung für das Dilemma? Wie kannst du mit diesen Widersprüchen und deiner Unsicherheit besser umgehen?
Schritt 1 hast du bereits erledigt
Schritt 1: Mache dir diese Widersprüche bewusst und verstehe sie (das hast du hoffentlich bereits mit dem Lesen dieses Artikels getan). Also: Erledigt!
Hinterfrage die Widersprüche
Schritt 2: Hinterfrage sie. Wie sinnvoll ist es z.B., dass du als Frau einerseits knallhart im Job auftrittst und andererseits deine Augen stark schminkst?
Was sind deine Gedanken?
Schritt 3: Schmeiße die Industrie so gut es geht aus deinem Kopf. Versuche herauszufinden, was deine Gedanken sind, und was die Industrie nur in deinen Kopf eingepflanzt hat. Zugegeben, das ist echt nicht einfach. Aber der erste Schritt ist getan, nämlich, dich dafür zu sensibilisieren. Jetzt kannst du tief in dich gehen und überprüfen, was dir nur von außen eingetrichtert wurde und was du selbst darüber denken möchtest.
Entscheide selbst, was du für richtig hältst
Schritt 4: Denke selbst. Du brauchst nicht alles von der Industrie vorgekaut. Die ist ohnehin nur darauf spezialisiert, uns eine Scheinwelt vorzugaukeln, um möglichst viel Profit zu machen. Wenn du selbst entscheidest, was du für richtig und gut erachtest, hilft dir das bei allen Widersprüchen, Unsicherheiten und zwischenmenschlichen Beziehungen.
Handle nach deinen Vorstellungen
Schritt 5: Handle gemäßigt nach deinen Vorstellungen. Indem du selbst denkst, wirst du wahrscheinlich Extremitäten und irgendwelchen Idealen hinterherlaufen von selbst abstellen. Und vielleicht auch die Widersprüche aus deinem Leben verbannen können.
Natürlich gibt es noch viel mehr Gründe für Unsicherheiten – aber ich denke, diese angeführten Beispiel tragen schon einen großen Teil dazu bei. Wie gefällt dir denn dieser Text? Ist er zu soziologisch? Oder möchtest du mehr über soziologische Sichtweisen lesen? Lass es mich doch gerne wissen!
Unsicherheit kannst du auch bekämpfen, indem du dir diesen Artikel durchliest.
Oder möchtest du dich von deiner Abhängigkeit befreien?