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Ja, Pessimismus hat einen schlechten Ruf. Schon der Wortlaut klingt nach „ich verkrümel mich jetzt in eine Ecke und komme nie wieder heraus“. Wenn ich nur über das Wort nachdenke, schlägt meine Stimmung ins Negative.
Aber Pessimismus ist nicht immer schlecht. Wir sind heute so darauf getrimmt, immer glücklich sein zu wollen, immer optimistisch in die Zukunft zu blicken, dass wir die pessimistischen Menschen hinter uns lassen. Dabei tragen sie etwas in sich, was auch wir in uns tragen. Und uns vielleicht sogar nützlich sein kann.
1. Pessimismus als Instinkt
Der Pessimismus liegt in uns verankert. Warum? Es sind unsere Urinstinkte, die uns leiten und uns vor Gefahren beschützen wollen. Laut Professor Hans Rosling hat jeder Mensch einen „Instinkt der Negativität“. Das heißt, wir nehmen notorisch eher das Schlechte als das Gute wahr. Klingt ja auch irgendwie logisch: Einem gefräßigen Säbelzahntiger vor der Haustür solltest du eher deine Aufmerksamkeit schenken als der Vorstellung des neuen iPhones.
Aber das ist noch nicht alles. Laut Rosling gibt es nämlich noch viele andere Instinkte, die die Schwarzmalerei fördern. Wie z.B. den Instinkt der Dringlichkeit, der eine schnelle, voreilige und manchmal falsche Entscheidung erzwingt. Oder den „Instinkt der Dimension“, mit dem wir alle zumindest ein bisschen zur Übertreibung neigen – und zwar nicht nur, wie groooßartig unser Urlaub war, sondern auch ins Negative. Logisch, dass das Pessimismus wachsen lässt – und er uns allen irgendwie vertraut ist.
2. Defensiver Pessimismus als Vorbereitung
Bleiben wir bei dem Säbelzahntiger: Der Pessimist hat nämlich schon längst mit diesem gerechnet und sich bestens vorbereitet. Mit einer Gun und dem Gedanken, das sowieso nicht zu überleben, stellt er sich breitbeinig vor ihn. Und bammm!, ist der Tiger tot. Der Optimist hingegen hat gar nicht mit dem Besuch gerechnet und muss jetzt zusehen, dass er den Tiger irgendwie mit einem Buttermesser in Schach hält.
Was diese kleine Geschichte aufzeigen soll, ist der „defensive Pessimismus“ nach der Forscherin Julie Norem. Der Pessimist läuft nicht vor einer Situation davon, sondern spielt schon durch, was schiefgehen könnte. Im besten Fall bereitet er sich deshalb passend vor. Und schwubs – auf einmal klappt die Situation.
3. Pessimismus für Flexibilität
Ein weiterer toller Nebeneffekt des Pessimismus ist seine Flexibilität. So geht der Samurai Ryunosuke Otsuka vor einem Kampf immer davon aus, dass er verlieren wird. Das widerspricht der sonst in der Persönlichkeitsentwicklung praktizierten, fest verankerten Vorstellung vom Sieg. Und Achtung: Er macht das auch wirklich nur kurz vor dem Kampf.
Aber diese Einstellung, sagt er, sei befreiend. Weil er nur dann flexibel bleiben könne. Denn wenn er eine feste Vorstellung davon habe, wie sein Sieg auszusehen hat, könne er sich nicht so schnell auf neue Herausforderungen einstellen.
4. Heulen hilft
Aber Pessimismus hilft auch der Verarbeitung. Gerade jetzt zur Corona-Zeit ist für viele Selbstständige die Welt zusammengebrochen. Besonders Entertainer, die davon abhängig sind, auf der Bühne zu stehen, müssen einen Schock erlitten haben. Naja, und dann sagen: „Ach komm, das wird schon wieder!“

Nein, das weißt du in dem Moment eben nicht, ob es wieder wird. Das ist nur eine banale Floskel, um dir nicht das verrotzte, rote Gesicht mit den geschwollenen Augen geben zu müssen. Die Wahrheit ist: Lass den Menschen doch mal heulen! Das ist gerade alles, was er braucht. Und dich an seiner Seite, der einfach nur da ist und für frische Taschentücher sorgt. Und wenn die Trauerkloß-Phase vorbei ist, kann er mit Sicherheit das Leben wieder anpacken.
5. Pessimistisch? Du bist intelligent!
Und noch einen weiteren Vorteil haben Pessimisten. Sie gelten als intelligenter als die Optimisten. Und sie machen sich mehr Gedanken über die Welt als ihre fröhlichen Gegenpole. „Ohne eine Portion Pessimismus kann ein nachdenklicher Mensch eigentlich nicht existieren“, behauptet Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. Das macht den Pessimisten zum Realisten.
Ein hoher IQ führt oftmals dazu, sich mehr Sorgen zu machen oder sich selbst zu kritisieren. Schon Aristoteles sagte, dass Intelligenz Hand in Hand mit der Melancholie ginge. Und was heute leider oftmals als negativ bewertet wird, gehörte in früherer Zeit zur guten Gewohnheit. Lachen und Unbeschwertheit galten als oberflächlich. Bedeutet das, dass wir gerade in so einer miesen Zeit leben, dass die ständigen „positiven Vibes“ uns den Popo retten müssen?
6. Pessimismus ist eine geschickte Lebensstrategie
Pessimisten üben von vornherein, dass es ihnen irgendwann schlecht gehen könnte. Was erstmal abstrus klingen mag, ist eine sinnvolle Lebensstrategie. Denn ja, so sind sie vorbereitet. Und haben darüber hinaus die Unterstützung ihrer Mitmenschen, die auf die Schulter klopfen und „du packst das schon!“ sagen. So sichern sie sich ganz selbstverständlich die Zusprache ihrer Mitmenschen.
Auf diese Weise schützen sich Pessimisten vor überzogenen Erwartungen und sind für schwierige Zeiten „abgehärtet“. Ihr Gehirn kennt schließlich schon diesen Zustand. So können sie nicht wie die „Verleugner“ plötzlich in ein tiefes schwarzes Loch fallen, wenn ihr Plan doch nicht aufgeht.
Und, bist du jetzt angetan vom Pessimismus? Vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm, wenn jeder von uns ihn in sich trägt. So sichern wir uns nicht nur unser Leben (oder das neue iPhone), sondern schützen uns auch vor überzogenen Erwartungen. Natürlich – bitte – alles nur in Maßen.
Denn du darfst nicht vergessen, dass Pessimismus durchaus seine negativen Seiten hat. Aber sich aufs Negative konzentrieren kann ja jeder, wie wir herausgefunden haben. Und wenn du nächstes Mal zu hören bekommst „Denk doch mal positiv!“ dann weißt du jetzt, was du antworten kannst. Ich wünsche dir viel Spaß mit den verdutzten Gesichtern!
Alles Gute, Sabrina
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