Eine Geschichte vom Gefühl

Geschichte vom Träumen

Lesezeit: 4 Minuten

Der Wind weht in leichten Zügen um sie. Ihre sanften Berührungen auf seiner Haut tragen Frieden und Geborgenheit in sich. Die Sonne ist längst untergegangen, doch noch immer sitzen sie oben auf dem Baum. Kälte frisst sich zu ihnen herauf, aber bisher ignorieren sie diese, als würde sie überhaupt nicht existieren. So weit, wie sie vom echten Erdboden entfernt sind, sind sie auch vom Boden der Tatsachen entfernt. Nur zusammen können sie in eine neue, bessere Welt eintauchen, dort Geborgenheit und Schutz finden. Es ist eine Welt voller Liebe.

Der Tag endet und die Nacht bricht an. Es ist völlig egal. Solange er sie hat und sie ihn. In vollkommener Stille sitzen sie dort oben, seit sie es gewagt haben, sich vor der Realität zu verbergen.

Ihre weiche, warme Hand hält seine. Das ist das erste Mal, dass sie es tut. In einer einzigen kleinen, nahezu unscheinbaren Bewegung hat sie seine Hand genommen und ihre Finger haben sich um seine geschlossen. Er hat nichts gemacht. Im ersten Augenblick war er misstrauisch, so wie er immer misstrauisch war. Aber dann hat er bemerkt, dass es ein Ausdruck von Liebe ihrerseits ist und kein Verrat. Ganz sanft ist es ihr gelungen, ihre Hand mit seiner auf ihr Bein zu legen. Ohne ein Wort ist das alles geschehen.

Kurzerhand gab er auch seine allerletzten Sperrungen gegen ihre Liebe auf und hat mit seinen Fingern auch ihre umschlossen. Der Moment ist sehr zärtlich und vertrauensvoll. Er weiß nun, er kann ihr alles sagen. Was es auch ist, sie würde zuhören, und was er auch tut, sie wäre für ihn da. Das Gefühl, das bei dieser Erkenntnis in ihm entsteht, ist unbeschreiblich schön. So hat er sich in seinem ganzen Leben noch nie gefühlt. Zusammen mit ihr erlebt er eine eigene Welt, in der ein Paradies gewachsen ist. Dieses Paradies sind seine schönsten Empfindungen.

Sie sind lachend vor seinem Vater weggelaufen, der ihnen mit barscher Stimme befohlen hat, sie sollen dies und das tun. Aber mit ihr an seiner Seite fühlt er sich unbesiegbar. Ihr würde er sein Leben anvertrauen, weil er sich sicher ist, sie würde es besser behüten als er selbst.

Zusammen entziehen sie sich einfach den Pflichten dieser Welt. Kringelnd vor Lachen haben sie sich auf einer Wiese übereinander gewälzt. Er spürte das Gefühl innerhalb seines Körpers, sich aus schrecklichen Zwängen zu befreien, die sein Herz verzehrt haben. Noch nie hat er sich so gut gefühlt. Mit einem offenen Blick hat er in ihre Augen geschaut und erkannt, dass er sich so fühlen darf. Denn sie fühlt sich auch so. Er darf die Zwänge vergessen und sein Herz in seiner Brust spüren. Er darf lachen und offene Worte sagen. Er darf glücklich sein, was er sonst nie gedurft hat. Er darf alles, was er will.

Unendliche Freiheit umgibt ihn. Mit ihr hat sich eine neue Welt aufgetan. Sie hat Dinge in ihm hervorgerufen, da war er erschrocken. Mit aller Macht hat er sie zurückzudrängen versucht. Aber irgendwann ist ihm aufgefallen, dass sie gut ist und nur Gutes will. Er hat erkannt, dass es schlecht ist, das Schlechte weiter in sich bestehen zu lassen. Plötzlich hat sich das Paradies aufgetan und er ist in diese andere Welt getaucht, von der er nicht einmal geahnt hat, dass es sie geben konnte. Dass es sie geben durfte. Sein Glück hat begonnen.

Nach der Flucht vor seinem Vater sind sie hierher gekommen, zu diesem Baum. In seiner Freiheit ist er auf die kindische Idee gekommen, dort hinaufzuklettern und den anstehenden Sonnenuntergang zu beobachten. Sie hat eingewilligt. Zuerst ist er hinaufgeklettert. Das ist anstrengend gewesen, denn der Baum besitzt kaum niedrige Äste.

Doch schließlich hat er es geschafft und zu ihr gesagt, sie solle schnell folgen. Allerdings ist sie trotz größerer Gestalt nicht heraufgekommen und rief zu ihm hoch, er müsse ihr helfen. In einer einzigen, fließenden Bewegung ließ er sich kopfüber hängen und hat ihr zugelacht, und seine Augen haben dabei wie nie zuvor gestrahlt. Sie hat es ganz deutlich gesehen. Er ist jetzt frei und darf tun, wonach ihm der Sinn steht, und sein Lachen hat dies deutlicher als jedes Wort auf der ganzen Welt offenbart. Die Kälte, die seine Augen sonst immer beherrscht hat, ist verschwunden.

Mit seinen kräftigen Armen hat er sie in die Baumkrone hochgezogen. Zusammen ist es ihnen gelungen, die vielen Blätter des Baumes zur Seite zu schieben, damit sie Aussicht auf den freien Himmel haben. Es sind nur noch wenige Worte zwischen ihnen gefallen, bis sie seine Hand in ihre genommen hat.

Nun sitzen sie dort und blicken beide in die anbrechende Nacht.

Der Wind wird kälter und zieht zu ihnen herauf. Er spürt, wie ihre langen Haare seinen nackten Arm streifen und beinahe behutsam kitzeln. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen, denn er ahnt, seine wunderschönen Gefühle werden nicht dauerhaft bleiben. Gerade deshalb genießt er den Moment in vollen Zügen.

„Was denkst du?“, flüstert sie auf einmal neben ihm. Sie haben seit mindestens einer Stunde geschwiegen. So lange sitzen sie bereits in der Baumkrone und blicken in die Ferne.

„Ich denke an dich“, antwortet er leise. Sie sehen einander nicht an, aber er spürt, wie ihr Griff um seine Hand etwas fester wird. Verkrampft sie sich?

„Gehen wir zurück?“, fragt sie. Ihre Worte geben ihm Anlass, verwundert in ihr Gesicht zu blicken. Sie erwidert seinen Blick nicht, sondern starrt weiter geradeaus. Das ist ungewöhnlich für sie; normalerweise nutzt sie jede Möglichkeit, in seinen Augen nach Antworten zu suchen.

Du willst nicht, dass wir gleich wieder nach Hause gehen, erkennt er. Du willst mit mir noch lange hier bleiben und meine Nähe genauso wie ich die deine genießen.

„Nein“, sagt er deshalb, langsam, mit Nachdruck. Trotzdem hat er das Wort ganz zart ausgesprochen. Sie lauscht seiner Stimme und will gar nicht diesen Ton, dieses „Ja“, verklingen lassen.

Jedes weitere Wort ist unnötig, denn sie verstehen einander in dem Augenblick auch so. Er hält ihre Hand nun fester. Sie haben gewechselt. Jetzt hält nicht mehr sie seine Hand, nun hält er ihre.

Er spürt einen Hauch von Vollkommenheit in sich.

Ruhe und Gelassenheit gegen die Angst und Unsicherheit. Diesen Text habe ich vor langer Zeit mal geschrieben. Ich hoffe, er hat dir gefallen, und du konntest einen Moment des Friedens beim Lesen genießen.

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